Podiumsdiskussion 10:00-12:30 Uhr
Panel discussion 10 am - 12:30 pm

Die Podiumsdiskussion ‚Jiddisch und die Mitte Europas' beginnt um kurz nach 10 Uhr damit, dass Moderator Richard Kiessler, der Chefredakteur der Neuen Ruhrzeitung, die Diskussionsteilnehmer vorstellt.

In den folgenden gut zwei Stunden entspannt sich dann ein Austausch, bei dem die Teilnehmenden aus ihrer Sicht die relevanten Aspekte für Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des Jiddischen und auch verschiedene Möglichkeiten benennen, die durch das EYDES-Archiv in diesem Zusammenhang erwachsen.



Avi Primor

Jiddisch ist in einem Land der Welt ganz offiziell und mehr als überall anders bekämpft worden: zunächst in der zionistischen Bewegung und dann im Staate Israel. Ich selbst kann mich noch gut an die Plakate auf den Straßen "Hebräer, spreche hebräisch!" in meiner Jugend erinnern. Nachdem es gelungen war, unter den meisten Aschkenazim das Jiddischsprechen zu unterbinden, nahm durch die Zuwanderung aus islamischen Staaten die Unkenntnis des Jiddischen in der Gesamtpopulation Israels weiter zu. Zugleich verlor Jiddisch dadurch endgültig die Legitimation, ‚die jüdische Sprache' zu sein.

Jiddisch als lebendige Sprache hat an Bedeutung übrigens nicht erst durch die Shoah, sondern bereits weit vor dem Zweiten Weltkrieg verloren, nämlich schon nach dem Ersten Weltkrieg, als die jiddisch sprechenden Juden in Osteuropa zunehmend sprachlich assimilierten. Ich würde das zukünftige akademische Interesse deshalb auf die jiddische Kultur und Tradition richten wollen, nicht auf das Jiddische als lebendige Sprache, weil das Jiddische als solches keine Zukunft hat. Auch die Kinder der Chassidim sprechen mittlerweile in Israel Hebräisch meist ohne jiddischen Akzent...

In Deutschland ist die Situation übrigens ähnlich: brachten die jüdischen Auswanderer aus Russland in den ersten Jahren nach 1945 noch Jiddisch als lebendige Sprache mit in die deutschen jüdischen Gemeinden, so ist das bei den heutigen jüdischen Einwanderern aus Russland definitiv nicht mehr so.



Karl Schlögel

Bei meiner akademischen Erkundung von Mittel- und Osteuropa stand ein sprachwissenschaftliches Interesse nie im Mittelpunkt, trotzdem bin ich der festen Überzeugung, dass sich die Geschichte dieses Teils Europas sich überhaupt nicht erzählen lässt, ohne sich eingehend mit dem dafür konstitutiven Anteil des Jiddischen und der sogenannten ostjüdischen Kultur zu beschäftigen.

Ich gebe Herrn Primor recht, dass der Abstieg des Jiddischen als Erstsprache schon weit vor dem Zweiten Weltkrieg begonnen hatte. Die Russische Revolution wurde von vielen Jungen als Möglichkeit zur Flucht aus dem Shtetl begriffen, das als ein Ort der Zurückgebliebenheit und der Enge interpretiert wurde. Jiddisch galt somit in dieser Zeit des Aufbruchs als Sprache der alten Welt, die junge Generation hingegen strebte hinein in die Mehrheitskultur.

Das Interesse an der jüdische Kultur sollte nicht primär aus der Verantwortung für das deutsche Verbrechen gespeist sein, sondern aus einem Interesse an der autonomen Vitalität des Jiddischen und Jüdischen.

Es ist aus meiner Sicht fraglich, ob das Jiddische eine Renaissance in Europa als lebendige Sprache erleben kann, auch wenn beispielsweise das Interesse an Jiddisch-Sprachkursen an meiner Universität, der Viadrina in Frankfurt/Oder, groß ist.



Eugeniusz Cezary Król

Es gab eine immense Vielfalt und Lebendigkeit jiddischen Kulturlebens in Polen in der Zwischenkriegszeit. Nach 1918 konnten polnische Juden staatliche polnische Schulen besuchen, was dazu führte, dass vormals rein jiddischsprachige Juden polnisch lernten. Aber die jüdischen Religionsschulen blieben bestehen. Trotz der schwierigen, von Anfeindungen geprägten Lage blieb das jiddische literarische Leben sehr lebendig. Leider war die Verschmelzung der verschiedenen Kulturen auf polnischem Territorium eine Einbahnstraße, das jiddische Kulturleben war also stark von der polnischen Kultur beeinflusst, die nicht-jüdische polnische Kultur und Literatur aber praktisch gar nicht vom Jiddischen.

1939 lebten dreieinhalb Millionen Juden (= zehn Prozent der Gesamtbevölkerung) in der Zweiten Polnischen Republik.

1945 lebten noch 50.000 Juden in Polen, bald gab es durch antisemitische Übergriffe oder Pogrome wie 1946 in Kielce 150 km südlich von Warschau eine Auswanderungswelle und auch die israelische Staatsgründung führte zu Emigration.

1996, nach weiteren Auswanderungen und Umsiedlungen, lebten 10.000 Juden in Polen, 6.000 von ihnen beteiligen sich am religiösen Leben, faktisch alle sprechen Polnisch.

Kennt oder braucht also jemand noch Jiddisch in Polen?
Junge Polen, auch nicht jüdischer Abstammung, haben neuerdings Interesse an jüdischer Kultur, wollen Jiddisch lernen, und betrachten - eine wichtige Entwicklung! - die Geschichte der polnischen Juden als Teil der polnischen Geschichte. Es ist aus meiner Sicht eine wichtige Aufgabe der Bürger der demokratischen Republik Polen, vorhandene Tendenzen des Antisemitismus streng und konsequent abzubauen und über jüdische Vergangenheit und Gegenwart Bescheid zu wissen.



Dov Ber Kerler

Das Jiddische stellt einen unvergleichbaren und großen Schatz für die Humanwissenschaften, für die Linguistik und insbesondere auch für die Dialektologie dar. Das EYDES-Archiv repräsentiert das in bedeutender Weise und fügt darüber hinaus soziale Kontexte bereichernd hinzu.

Ich bin nicht einverstanden mit der These von Avi Primor, dass das Jiddische schon vor dem Untergang des osteuropäischen Judentums im Zweiten Weltkrieg dazu verdammt gewesen sei, keine Zukunft zu haben. Die Frage des ‚Was wäre passiert, wenn dieses oder jenes nicht passiert wäre' bringt uns nicht wirklich weiter. Fakt ist, dass durch die Shoah eine bedeutsame Zukunft für das Jiddische unmöglich gemacht wurde.

Es freut mich, dass im Baltikum ein neues Interesse am Judentum erwacht ist. So sehen viele Litauer mittlerweile das jüdische Wilna, die unbestrittene kulturelle Hauptstadt des osteuropäischen Judentums, als integralen Bestandteil ihres nationalen kulturellen Gedächtnisses an.



Judith Klavans

Im Jahre 1980 kannte niemand das Wort ‚blog'. Nun, 25 Jahre später, ist es in der Kommunikationswelt eine wichtige Sache für unsere kulturelle Identität geworden.

Im Jahre 1950 kannte praktisch niemand das Wort ‚database' in seiner zukünftigen Bedeutung. Aber Uriel Weinreich scheint eine Vorstellung von ‚database' gehabt zu haben und so ist das ‚Language and Culture Archive of Ashkenazic Jewry' nach database-Kriterien aufgebaut, eine Tatsache, von der wir heute bei der Erschließung enorm profitieren können.

Was also wird in 25 Jahren, in 50 Jahren möglich sein mit dem Material, das wir uns heute nur schemenhaft oder gar nicht vorstellen können?

Vielleicht werden Verlinkungen zwischen verschiedenen Spracharchiven auf der Basis von Spracherkennungs-Software möglich sein.

Vielleicht werden die Möglichkeiten, unter den Benutzern vernetzt und gemeinsam zu arbeiten, ganz andere sein und man kommt dahin, das Archiv als ‚collaborative working space' zu begreifen und zu benutzen.

Mit jeder Barriere, die in dieser Hinsicht fällt, werden Archive allgemein zugänglicher werden. Durch EYDES sind - was für ein riesiger Schritt - die Barrieren Ort und Zeit gefallen. Und es sind weitere Möglichkeiten angelegt, in der Zukunft die Zugänglichkeit zu vereinfachen und zu erweitern.



Jonathan Boyarin

Ich erinnere mich an einen Film namens ‚Hiding and Seeking', in der eine junge Frau das Shtetl ihrer Vorfahren besucht und sich darauf einlässt, die Atmosphäre aufzunehmen und nachzuempfinden.

Durch EYDES wird es für diese Frau über eine einfache Ortsabfrage möglich, zu hören, in welchem Dialekt dort früher Jiddisch gesprochen wurde und was es in dieser Gemeinschaft für Themen, Gebräuche und Besonderheiten gab. Das Archiv bringt das Jiddisch dahin zurück, wo es gesprochen wurde und herkommt.

Neben analytischen Möglichkeiten, die Judith Klavans angesprochen hat, sind es also auch holistische Möglichkeiten wie diese, die das Archiv auszeichnen.



Klaus Ahlheim

Vorurteilsstudien belegen, dass Fremdenfeindlichkeit in westeuropäischen Ländern ein in der Mitte der Gesellschaften verwurzeltes Phänomen ist. Die traditionellen antijüdischen Vorurteile haben abgenommen, dafür sind neue Formen des Antisemitismus an ihre Stelle getreten, wie z.B. der Topos des ‚Ausnutzens des deutschen schlechten Gewissens durch Juden'.

Pädagogisch lässt sich das EYDES-Archiv in diesem Kontext folgendermaßen nutzen: Zum einen ist die jiddische Kultur ein Beispiel für multikulturelle Koexistenz über Jahrhunderte, der als Kultur der Gedanke der eigenen Nation fremd war.

Zum anderen ist eine Annäherung an jüdische Lebenswelten didaktisch sinnvoll, wenn der Zugang dazu nicht über Themen von Tod und Vernichtung, sondern zunächst über lebendige Kultur und persönliche Zeugnisse erfolgt, wie pädagogische Studien zeigen.