Berlin, Landesvertretung Nordrhein-Westfalen beim Bund
14:00-18:00 Uhr / 2:00-6:00 pm
Experten-Colloquium / Expert Discussion
‚Jiddisch und die Mitte Europas’

Die Expertenkonferenz ‚Jiddisch und die Mitte Europas', die anlässlich der Eröffnung der Internet-Datenbank EYDES zum LCAAJ (Language and Culture Atlas of Ashkenazic Jewry)-Archiv heute und morgen in der Landesvertretung Nordrhein-Westfalen in Berlin-Tiergarten stattfindet, beginnt um 14 Uhr mit einem Expertenkolloquium.

Minister Wolfram Kuschke, der Bevollmächtigten des Landes NRW beim Bund, begrüßt die Anwesenden und betont die Verbindung der veranstaltenden Partner dadurch, dass die Wurzeln des Fördervereins für jiddische Sprache und Kultur e.V. in der Nordrhein-Westfälischen Landeshauptstadt Düsseldorf liegen.

Die aufklärerische Absicht des Unterfangens, das in New York lagernde LCAAJ-Archiv über das Internet für die weltweite Öffentlichkeit benutzbar zu machen, bezeichnet der Minister als Globalisierung im positiven Gewande. Im Selbstversuch hat er festgestellt, dass die EYDES-Seite, wenn man in der größten Suchmaschine ‚jiddisch' eingibt, der allererste Eintrag ist. Man komme also an dem Projekt nicht so schnell vorbei...

Man wolle dieses geschichtsbewusste Vorhaben unterstützen und sei sehr froh, diese Konferenz im Hause beherbergen zu dürfen, zumal es Kräfte gäbe, die 60 Jahre nach Kriegsende die deutsche Vergangenheit verfälschen wollten und vor denen man die Augen nicht verschließen dürfe und wolle.

Zunächst präsentieren Ulrike Kiefer, die jiddistische Leiterin des Kulturprojektes EYDES und Robert Neumann vom Vorstand des Fördervereins für jiddische Sprache und Kultur e.V. gemeinsam das EYDES-Archiv und ihre Überlegungen zur Vielfältigkeit der weiteren Entwicklungsmöglichkeiten.

Dr. Ulrike Kiefer und Robert Neumann moderieren das Expertenkolloquium; sie schlagen die Abfolge der Beiträge der Experten nach drei Themenbereichen und ein Zeitgerüst vor:
2:15 pm
1. The EYDES archive – present state, theory, demonstration, IT aspects:
Robert Neumann, Ulrike Kiefer; Judith Klavans; Matthias Withopf
Pause
3:45 pm
2. Application: Janet Gertz; Dov Ber Kerler; Klaus Ahlheim
5:30 pm
3. Cultural aspects: Jonathan Boyarin
End 6:15 p.m.

Das EYDES-Archiv ist ins Internet gestellt worden, damit die Tonaufnahmen mit den Stimmen der ‚Zeugen' aus den Kellerregalen an das Licht der Öffentlichkeit gelangen. Es soll als ein für Benutzer handhabbares, navigierbares Repositorium funktionieren, das den Ansprüchen, die an Kulturarchive gestellt werden, Genüge leistet.

Es soll darüber hinaus dazu beitragen, die Bewusstseinslücke über jiddischsprachige Kultur in Europa zu schließen. Die IT-basierte linguistische Methodik ist also kulturpolitisch eingebettet.

Die bisherigen in diesem Kontext getroffenen Festlegungen und Entwicklungen werden in der Präsentation zusammengefasst (also beispielsweise die Index-Gliederungskriterien oder ein Wortindex in romanisierter Form) und somit im Expertenkolloquium zur Diskussion gestellt, um sie entweder zukünftig zu korrigieren oder als angebracht zu untermauern.

An Ausbaumöglichkeiten werden die Einbeziehung von Sekundärindexen, weitere statistische Analysemöglichkeiten und benutzerfreundlichere Präsentationsformen vorgestellt. Auch das Einbeziehen der Nutzer in das Transkribieren und sonstige Dialogmöglichkeiten mit ihnen werden erörtert, schließlich die Verknüpfung mit anderen Jiddisch-Archiven und Archiven koterritorialer Sprachen.

Als nächste spricht Judith Klavans, Professorin für Computerlinguistik an der University of Maryland und Spezialistin für die Entwicklung statistischer Methoden zur Informationserschließung.

Professor Klavans war früher Gründungsdirektorin des ‚Center for Research on Information Access' der Columbia Universität, dessen Ziel es war, interdisziplinäre Verbindungen zwischen den Humanwissenschaften und den digitalen Technologien herzustellen. In dieser Funktion nahm sie an dem Treffen am 24. November 1994 teil, auf dem beschlossen wurde, das LCAAJ-Archiv in die Bestände der Columbia University Library zu übernehmen, was für sie in der Rückschau immer noch einen Moment großer intellektueller und persönlicher Zufriedenheit darstellt. Den Fokus ihrer Ausführungen bilden ihre Überlegungen, warum aus ihrer Sicht der Internetzugang für die umfangreiche Benutzung dieser einzigartigen Sammlung essentiell sei.

Es gebe nämlich weiterhin relativ wenige Spracharchive im Internet. Es gebe noch weniger, die so sorgfältig transkribiert und mit expliziter Verbindung zwischen gesprochenem Text und Schrift annotiert worden seien wie EYDES. Und es gebe noch viel weniger, wenn es überhaupt noch ein anderes gebe, die das kulturell verschlagwortete Material mit zugehörigen linguistischen Daten verbinde. EYDES habe durch den erreichten Standard Vorbildcharakter, auch z.B. für anstehende spracharchivarische Forschungen am ‚Center for Advances Study of Language' an der University of Maryland.

Die Nutzung dieses Archivmaterials durch Anthropologen, Linguisten, Politiker, Psychologen und Analysten aus vielen Bereichen werde dazu beitragen, mehr Datenbänke für gesprochene Sprache einzurichten mit allen damit verbundenen internationalen Implikationen. Dass das Material nun im Internet zugriffsbereit sei, vergrößere die Möglichkeit, dass diesbezügliche Visionen eines Tages Wirklichkeit werden.

Jetzt spricht Matthias Withopf, der die informatischen Aspekte des EYDES-Projektes betreut und über die technischen Aspekte Auskunft geben wird.

Die Festplatte, die der Vortragende als Anschauungsmaterial hochhält, veranschaulicht sehr bildlich den technischen Fortschritt der letzten Zeit. Die 2.552 Tonbänder nahmen und nehmen weiterhin einen großen Raum in der Columbia University Library zur Lagerung in Anspruch, ehe sie auf 5000 CDs in einem Regal reduziert wurden, nun lassen sich die im Format mp3 komprimierten 6000 Stunden Ton spielend auf einem Datenträger von der Größe einer Zigarettenschachtel unterbringen, bislang hat das überspielte Material einen Umfang von 60 Gigabytes.

Nun spricht Janet Gertz, Spezialistin für Erhalt und Pflege von Bibliotheksbeständen und Archivsammlungen und 'Director for Preservation' an der Columbia Universitätsbibliothek in New York, über die Bewahrung des 'Language and Culture Archive of Ashkenazic Jewry' (LCAAJ) an der Columbia Universität.

Im Jahre 1997 begann die Abteilung für Konservierung der Universitätsbibliothek der Columbia Universität in New York mit der nachhaltigen Bewahrung des 'Language and Culture Archive of Ashkenazic Jewry' (LCAAJ). Das Projekt, das im Juni 2005 abgeschlossen sein wird, bestand darin, etwa 5700 Interview-Stunden, die zwischen 1959 und 1972 auf über 2500 Tonbändern verschiedenster Qualität und Beschaffenheit in verschiedenen Ländern aufgezeichnet wurden, analog auf hochwertige geräuscharme Bänder zu überspielen. Simultan dazu wurden Digitalkopien auf CD-ROMs gezogen. Die Originalbänder, neuen Master-Bänder und CD-ROMs sind alle durch eine Datenbank aufgeschlüsselt, der das Aufnahmedatum, der Aufbewahrungsort und andere wichtige Informationen zu entnehmen sind.

Von großer Relevanz bei der Bewahrung historischer Tonaufnahmen sind die hohen Kosten für eine angemessene fachliche Betreuung und für die Bereitstellung der Bänder für die Benutzung. Die wenigsten Institutionen haben die nötige Ausrüstung, um auch nur ihre eigenen Ton-Bestände adäquat abzuspielen und es gibt nur wenige speziell ausgebildete Experten.

Das EYDES-Projekt spielt in diesem Zusammenhang eine vorbildliche Rolle, weil es durch EYDES für Interessierte in der ganzen Welt einfach ist, auf das LCAAJ-Material zuzugreifen und sich den Originalton im Internet anzuhören. Die Onlinepräsentation und speziell zugeschnittene pädagogische und Suchfunktionen erhöhen noch zusätzlich den Wert der Original-Tonaufnahmen für Wissenschaftler und andere Interessierte, die mehr über Jiddisch und jüdische Kultur in Europa erfahren möchten.

Nun spricht Dov-Ber Kerler, Professor für jiddische Studien an der Indiana University in Bloomington und Verfasser jiddischer Lyrik, und erzählt über ein EYDES in mancherlei Hinsicht vergleichbares Feldforschungs- und Archivierungsprojekt, das er gemeinsam Professor Dovid Katz vom Vilnius Yiddish Institute durchführt: insgesamt sechs Interview-Reisen in jiddischsprachige Gemeinden in der heutigen Ukraine. Er betont den immensen Zeitdruck, dem dieses Projekt wegen des hohen Alters der letzten Überlebenden der Vorkriegsgeneration unterworfen ist.

Eine verstärkte internationale Vernetzung, wie es die zwischen EYDES, dem Wilnaer Projekt Last Shtetl Jews (LSJ) und dem von Professor Kerler geleiteten Indiana University Yiddish Ethnographic Project (IUYEP) sein könnte und informell ja bereits ist, wäre von unschätzbarem praktischen wie auch symbolischen Wert: EYDES ist in Deutschland beheimatet, wo das Jiddische ursprünglich entstanden ist, das Vilnius Jiddish Institute repräsentiert mit Wilna die vormalige spirituelle Hauptstadt der osteuropäischen Judenheit und das IUYEP ist in der USA zuhause, wo die meisten Juden heutzutage leben und wo das Jiddische eine lebendige Sprache in den chassidischen Gemeinschaften ist.

Als nächstes spricht Klaus Ahlheim, Professor für Erziehungswissenschaft an der Universität Duisburg-Essen, Campus Essen zum Thema ‚Jiddisch als Gegenstand politisch-historischen Lernens'.

Wie durch aktuelle empirische sozialwissenschaftliche Studien zu belegen ist, sind in Deutschland "sekundärer Antisemitismus" und "normalisierter Nationalismus" virulent. Diese Tatsache macht die besondere Notwendigkeit der Reintegration jiddischer Sprache und Kultur in das europäische Bewusstsein deutlich: als Beitrag gegen alle aktuellen Formen des Antisemitismus und zugleich als Beispiel für multikulturelle Toleranz und für eine Kultur, die immer mit anderen Kulturen zusammenlebte und der die Idee fremd geblieben ist, ein Land, ein Staat zu sein.

Das EYDES-Archiv kann sich hier als besonders hilfreich erweisen: es ermöglicht eine ganz besondere Zugangsweise, die auch bei Jungen, vielleicht auch Skeptischen, eher Interesse und Neugier als Abwehr erzeugen könnte, indem es eine unbekannte, vergangene, vielfältige Kultur (und Sprache) nahe bringt. Ein pädagogisch-didaktischer Ansatz, der Grauen und Verbrechen nicht ausspart, aber gleichwohl nicht bei ihnen "ansetzt" und mit ihnen beginnt, ist so möglich.

Es wäre gleichwohl für eine pädagogische Nutzung des EYDES-Archivs in der Schule, aber auch an der Universität und in der Erwachsenenbildung zu Themen wie etwa jüdische Identität, Antisemitismus und Verfolgung, politisches Handeln und soziale Bewegungen sehr wünschenswert, wenn das Archivmaterial (z.B. mit Hilfe von Übersetzungen, themenbezogenen Erläuterungen und einem Glossar) so als Lernmaterial aufbereitet wäre, dass es zwar zum Kennenlernen der jiddischen Sprache anregt und ermuntert, aber auch ein thematischer Zugriff ohne Sprachkenntnisse möglich ist.

Als letzter Experte des Kolloquiums spricht Jonathan Boyarin, Professor für Moderne Jüdische Studien an der Kansas University, über kulturphilosophische Aspekte des EYDES Projektes, das er zwischen location und ubiquity (über das Internet wird Ortsgeschichte greifbar), zwischen embodiment und fragmentation verortet und so als postmodern definiert.

Als noch nicht ausgeschöpfte Anwendungsmöglichkeit von EYDES benennt Boyarin die Vernetzung in genealogischen Kontexten. Zum einen denkt er hier an prominenten Websites wie JewishGen.org, die für ihn auch unter ‚nationalen' Aspekten von Bedeutung sind ("Je vielfältiger und reicher die virtuelle Repräsentation jüdischer lieux de memoire ist, desto besser.").

Zum anderen aber auch an die wachsende Zielgruppe der chassidischen Juden, die ein Interesse an ihrer eigenen Herkunft haben, oft aber auch darüber hinaus am Heimat-Shtetl des Rebbes.

Marvin Herzog, Professor emeritus der Columbia-Universität und langjähriger Direktor des New Yorker Atlas-Archivs, beteiligte sich engagiert und sichtlich bewegt an den Diskussionen. Die Eröffnung des Tonarchivs im Internet verfolgt er mit Begeisterung und bewertet sie als eine chancenreiche Weiterentwicklung und reichhaltige Basis für zukünftige jiddistische und linguistische Studien.

Experten und Gäste des Kolloquiums verfolgen aufmerksam die Beiträge und Diskussionen. Gerade das Zusammentreffen der technischen und kulturwissenschaftlichen Aspekte im EYDES-Projekt fasziniert die Zuhörer. Es wird deutlich, wie in diesem Schnittfeld neue Forschungsansätze und Anwendungsmöglichkeiten entstehen.